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Frage nicht! Ein Pandemie-Essay

Jun 9, 2020

Stadtbibliothekar Oliver Thiele setzt sich in seinem Pandemie-Essay mit dem besonderen Alltag der letzten Wochen auseinander. Der Text erschien zuerst im Schaffhauser Magazin vom 30.05.2020 und wurde für den Blog leicht überarbeitet.

 

Frage nicht! Leser der Kriminalromane von Wolf Haas kennen diesen warnenden Ausruf des Erzählers. Wie es so ging mit der Bibliothek und der Pandemie – fragen Sie nicht! Ich muss gestehen, dass ich mich von der Corona-Berichterstattung irgendwann ausgeklinkt habe. Eine Überdosis Fallzahlen, Kurvenverflachungen, Expertenerklärungen (Frauen sind selten darunter), bundesrätlichen Ermahnungen und Belobigungen liess mich die Flucht ergreifen. Ich hab’s ja dann auch mal begriffen: #Stayathome, #Flattenthecurve und wie die englischen Aufforderungs-Hashtags alle heissen. Vermutlich wird bald auch zum Maskentragen so ein aufforderndes # die Runde machen. Und dann warten wir auf die #Impfung, denn so gesund, wie wir dank der Quasi-Ausgangssperre geblieben sind, wird das nie etwas mit der #Herdenimmunität. Ob sich im Herbst dann alle zur Grippeimpfung anmelden werden? Vielleicht hilft ein kleiner Hashtag #impfdich nach; bis jetzt haben wir uns als Gesellschaft ja um die alljährliche #Grippe höchst unzimperlich foutiert.

Diesem #Schrecken versuchte ich mich folglich zu entziehen und tauchte standesgemäss ab in die Welt der Romane: Eskapismus also, Flucht vor der bösen Realität. Die «Jakobsbücher» der polnischen Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk spielen im jüdischen Podolien vor 250 Jahren – einer historischen Region Europas zwischen Polen, der Ukraine und der Moldau entlang des Dnjestr. Den Eskapismus kann man dabei aber grad vergessen. Es wüten Seuchen gnadenlos, und allerorten künden messianische Gestalten vom nahen Ende der Welt. Die Kirche ist allerdings noch im Dorf, und auch die Synagoge. Tapfer habe ich mich durch die 1100 Seiten gekämpft, immer wieder fasziniert von tollen Passagen und manchmal irritiert von müffelig-altertümelnder Sprache. So heissen Tokarczuks Bienen gerne Immen. Jeden Morgen beim Honigbrötli-Streichen vor dem Beginn des «Homeoffice» immte und summte der Sprachpurist in mir, bevor dann die betörende Süsse des Honigs auf dem Weggli ihre beruhigende Wirkung auf Gemüt und Seele entfaltete.

Meine Mutter hingegen hat die «Jakobsbücher» aufgegeben. Zu schwer sei der Wälzer, ungeeignet für die Lektüre in bequemer Position. Hoffentlich waren meine Spezereien für den mütterlichen Kühlschrank nicht ähnlich ungeeignet. Denn Mutter war zwar durchaus einsichtig, dass sie mit ihren 85 Jahren im Moment nicht unbedingt einkaufen gehen sollte. Gleichzeitig zeigte sie sich aber unwillig, mir eine konkrete Einkaufsliste zusammenzustellen. So dass ich in der Migros einpackte, was ich selber amächelig fand, in der Hoffnung, dass es passte. Deutlich anspruchsvoller in seinen Einkaufswünschen zeigte sich das Paar bei uns im Haus, für das wir Nachbarn einkaufen gingen. Die Jagd nach dem überall ausverkauften Dinkelmehl erwies sich so als hausgemeinschaftsverbindendes Event. Und die Suche nach Rapunzel-Polenta trieb mich in Läden, die ich sonst nur von aussen und auch dann nur flüchtig in Betracht gezogen hatte. Die Organisation dieses gemeinsamen Einkaufs wurde einem Whatsapp-Chat übertragen. Denn merke: In dieser Krise ist das Digitale Trumpf. Dank des digitalen Telefonalarms aus dem Hause Zuckerberg erfuhren wir nun alle jederzeit, wer aus dem Haus sich grade in den Coop aufmachen und auch für andere etwas einkaufen würde. Ebenso konnte uns nicht entgehen, wer grade dankend keinen Bedarf dafür hatte. So kam pro Tag ein hübsches bisschen Text zusammen – denn merke zum Zweiten: Je digitaler, desto #plapper! Später beruhigte sich die Haus-Chat-Lage; bilaterale Einkaufsabsprachen der guten alten analogen Art, selbstverständlich unter Wahrung des vorgeschriebenen #Abstands, erwiesen sich als effizienter.

Und #Abstand ist bekanntlich ja das neue #Sharing. Wir erinnern uns: Die Sharing Economy – Menschen treffen sich, tauschen Ideen aus, Gegenstände, Wohnungen und Autos. Das ist nun aber so etwas von 2019! Der #Hipster2020 hat das Tauschen eingestellt, die Grenzen hochgefahren. Schotten dicht. Der Umwelt begegnet er maskiert und am liebsten bloss noch virtuell. Und um den Abstand auch im Büro hinzubekommen, gibt’s das Homeoffice, in unseren behördlichen Merkblättern rührend «Telearbeit» genannt. So sass ich denn statt in “meiner” Stadtbibliothek mit Blick auf Mosergarten und eine Ahnung von Rhein zumeist an unserem Esstisch vor aufgeklapptem Laptop. Von dort schweifte mein bgehrlicher Blick nur allzu gern zu dem grossen tröstenden Schoggi-Osterhasen am andern Ende des Tisches. Vom Has’ ist nun längst nichts mehr übrig, die Pandemie ist aber noch da. Immer noch da sind darum beklagenswerterweise auch die Videokonferenzen aller Art. Was bin ich froh, wenn wir unsere Sitzungen wieder von Angesicht zu Angesicht durchführen können! Die abgefilmten zweidimensionalen Kunstwesen hinter den Computerscheiben, mit denen man sich zur Zeit digital verabredet, sind doch bloss eine traurige Erinnerung an das Leben in echt.

Überhaupt war das ja das Schlimmste: Das mangelnde Leben. Die leere Stadt. Die geschlossenen Läden. Und ja: Die geschlossene Bibliothek. Keine Schüler am Lernen, nicht in lebhaften Grüppchen und auch nicht stillkonzentriert mit den unhörbar dudelnden Kopfhörern ganz für sich. Keine Syrerinnen, Afghanen und Eritreer vor ihren Deutschkursen. Keine Geschichtenstunden auf Deutsch oder Russisch oder Spanisch in der viel zu kleinen Kinderabteilung. Der Lesesaal vermisst die leise raschelnden Zeitungsleserinnen mit dem strengen Warnblick (psst!) für wagemutige Neuankommende. Der Ausleihautomat hätte alles gegeben für eine Begegnung mit dem Reiseführer-Hamsterer! Eingerostet stand WLAN-Code-Generator und Kaffeemaschine. Und wo waren die Lucky Lukes, die Baumhausbewohnerinnen, die Warrior Cats, die Globis und die Kleinen Drachen Kokosnuss? Ich habe sogar unseren Mahngebühr-Verzugs-Spezialisten vermisst. Denn die Bibliothek ohne Kund*in lebt nicht, sie wartet höchstens auf bessere Zeiten. Und mit dem digitalen Angebot lässt sich’s sozial zwar überwintern, aber für mich wird’s immer ein Winter of Discontent bleiben.

Jetzt ist schon wieder etwas passiert. So lässt Herr Haas seine Brenner-Krimis beginnen. Ich für meinen Teil habe mein #Jahreskontingent an unangenehmen Überraschungen allerdings bereits im ersten Quartal ausgeschöpft. Dabei bin ich ja, ich weiss, privilegiert – bin keine Krankenpflegerin im Dauereinsatz, hab’ keine Kurzarbeit, und niemand in meinem Umfeld ist erkrankt. Darf ich mir trotzdem etwas wünschen, liebes 2020? Schaff eine Impfung her! Und bring uns eine Gesellschaft zurück, die sich nicht vorzugsweise über Grenzen und Distanzen definiert.