«Betrug» von Zadie Smith (Kiepenheuer & Witsch, 2023)
Buchempfehlung von Oliver Thiele
Zadie Smith goes Historischer Roman… das ist eine Überraschung. Die englische Autorin hat bisher vor allem die Gegenwartswelt beleuchtet, insbesondere das karibisch geprägte Nordwestlondon – am Berühmtesten in ihrem Debut «Zähne zeigen» von 2000. Sie ist eine elegante Stilistin und erzählt so voller Ironie und Humor, wie es nur die Engländer können.
«Betrug», ihr neustes Werk, führt uns ins London des 19. Jahrhunderts, das Reich der grossen Autoren Dickens und Thackeray, die Zadie Smiths Roman denn auch gleich mitbevölkern. Hauptperson auf der viktorianischen Bühne sind aber der reale, heute weitgehend vergessene Bestsellerautor William Ainsworth und seine Haushälterin und lebenslange Begleiterin Eliza Touchet, von deren Leben wir aber so gut wie nichts wissen – war sie doch halt «nur eine Frau» im Umfeld eines berühmten Mannes. Zadie Smith nun stattet diese Frau mit Leben aus, mit scharfem Intellekt und viel Esprit und einem neugierig-offenen Blick auf ihre Umgebung – sozusagen eine Dickens, die nie publizieren konnte. Fantastisch!
Auch der eigentliche grosse Betrug im Buch ist ein realer Fall – es handelt sich nämlich um den «Tichborne case»: Ein Ostlondoner Metzger gab vor, ein in Tat und Wahrheit bei einem Schiffsunglück umgekommener Adliger und Erbe zu sein. Der Prozess gegen den Metzger zog sich über Jahre hin, wobei es dem Betrüger gelang, grosse Teile der einfachen Leute auf seine Seite zu ziehen und gegen «die da oben» und «das System» zu mobilisieren. Ein Kronzeuge des Prozesses war Andrew Bogle, ein ehemaliger jamaikanischer Sklave und Diener des echten, ertrunkenen Adligen. Zadie Smith gibt auch Bogle die ihm zustehende Stimme und stellt das imperiale London damit leichthändig und elegant in den Kontext seiner riesigen kolonialen Schuld. Und so ist das viktorianische London, das wir von Oliver Twist und David Copperfield kennen, plötzlich gar nicht mehr nur weiss und männlich – Zadie Smiths Erzählkunst sei Dank.